Wissenschaft in Verantwortung

Cover der Publikation von Angela Borgwardt: Wissenschaft in Verantwortung. Berlin 2020

Angela Borgwardt: Wissenschaft in Verantwortung (Schriftenreihe des Netzwerk Wissenschaft). Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung 2020.

Link zur Publikation

Inhalt

Basis der Publikation ist die Konferenz „Wissenschaft in Verantwortung“ der Friedrich-Ebert-Stiftung. Dabei werden vielfältige Facetten der Frage beleuchtet, welche Verantwortung die Wissenschaft heute hat:

  • Welche Verantwortung hat Wissenschaft für gesellschaftlichen Fortschritt?
  • Wie kann Wissenschaft in die ganze Gesellschaft wirken?
  • Wie kann die gemeinwohlorientierte Wissenschaftskommunikation gestärkt werden?
  • Wird verantwortungsvolle Wissenschaft durch Ökonomisierung unter Druck gesetzt?
  • Wie könnte ein verantwortungsvoller Umgang mit den Ressourcen des Wissenschaftssystems aussehen?
  • Welche Verantwortung haben Hochschulen als Orte politischer Debatten?
  • Welche politische Rolle haben Hochschulen?

Die Argumente der Vorträge und Diskussionen werden in verschiedenen Themenschwerpunkten analytisch aufgearbeitet:

  • Wissenschaft und Politik im Dialog
  • Bedeutung der Wissenschaftskommunikation
  • Ökonomisches Handeln im Wissenschaftssystem
  • Politische Debatte und Demokratiebildung an Hochschulen
  • Verantwortung der Wissenschaft für Politik und Gesellschaft

Darüber hinaus werden auch Bezüge zu den aktuellen Entwicklungen seit Ausbruch der Corona-Pandemie hergestellt: Welche Auswirkungen hat die Krise auf das Verhältnis von Wissenschaft, Politik, Medien und Gesellschaft?

Wichtige Ergebnisse/Handlungsempfehlungen

Aus den Diskussionsbeiträgen der Konferenz können folgende Erkenntnisse und Empfehlungen abgeleitet werden:

Wissenschaft und Gesellschaft

Es sollte ein breiter gesellschaftlicher Diskurs über die Frage geführt werden, was unter gesellschaftlichem Fortschritt – im Sinne eines positiven sozialen Wandels – verstanden wird und welchen Beitrag Wissenschaft dazu leisten kann.

Es muss eine intensive öffentliche Debatte über gesellschaftliche Werte und Ziele geführt werden. Dabei sollte auch die Frage diskutiert werden, welche Verantwortung Wissenschaft hat, etwa in der Forschung zu Künstlicher Intelligenz (KI). Nur dann kann die Gesellschaft wissenschaftliche Prozesse verantwortungsvoll und aktiv begleiten.

Damit Wissenschaft in die ganze Gesellschaft wirken kann, muss die gemeinwohlorientierte Wissenschaftskommunikation gestärkt werden. Wichtig ist, wissenschaftliche Ergebnisse durch einfache Sprache verständlich zu vermitteln und dabei an die Alltagssprache der Bürgerinnen und Bürger anzuschließen. Vermittelt werden sollten nicht nur wissenschaftliche Inhalte und Ergebnisse, sondern auch die Prinzipien, Hintergründe, Wertentscheidungen und Methoden der Wissenschaft. Es geht darum, die Wissenschaftsmündigkeit der Bürgerinnen und Bürger zu befördern.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollten stärker mit gesellschaftlichen Gruppen kommunizieren, die bisher noch nicht erreicht wurden. Damit könnten auch Menschen mit nichtakademischem Hintergrund Verständnis für Wissenschaft und ihre Funktionsweise entwickeln bzw. ausbauen.

In der Öffentlichkeit auftretende Expertinnen und Experten sollten wissenschaftliche Erkenntnisse verständlich vermitteln. Zugleich sollten sie die besondere Logik der Wissenschaft vertreten – nämlich kommunizieren, dass Wissenschaft durch eine relativierende, suchende Bewegung nach Wahrheit gekennzeichnet ist. Wissenschaft produziert keine endgültige Wahrheit, sondern vorläufige Wahrheit, indem in den einzelnen Disziplinen spezifische Methoden zur Anwendung kommen und auf dieser Basis Aussagen getroffen werden, die jederzeit der weiteren Prüfung standhalten müssen und revidiert werden können.

Wissenschaft nimmt ihre Verantwortung wahr, wenn sie auch über Unsicherheiten, kritische Punkte, Dispute innerhalb der Wissenschaft spricht.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollten mit Akteuren des Wissenschaftsjournalismus neue Formate der Zusammenarbeit entwickeln, um durch eine Kombination der verschiedenen Fähigkeiten Wissenschaftskommunikation professionell zu gestalten.

Tendenzen von Wissenschaftsfeindlichkeit und -skepsis in der Gesellschaft muss entgegengewirkt werden, indem das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Wissenschaft gestärkt wird. Unverzichtbare Voraussetzung dafür ist das Sicherstellen der Qualität von Wissenschaft (Replizierbarkeit, Integrität, gute wissenschaftliche Praxis etc.).

In der Bevölkerung muss mehr Bewusstsein für die unterschiedlichen Logiken von Wissenschaft und Politik geschaffen werden.

Im gesamten Bildungssystem ist es wichtig, ein Verständnis für die Bedeutung von Wissenschaft und ihre besonderen Prinzipien zu befördern. Wissenschaft sollte möglichst früh in der Bildungsbiografie erfahrbar werden und stärker in der Schule präsent sein, z.B. durch Vorträge von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

Bürgerinnen und Bürger sollten verstärkt Akteure von Wissenschaft werden bzw. sich qualifiziert an Wissenschaft beteiligen können, z.B. im Rahmen von Bürgerwissenschaften, lokaler Forschung, Citizen Science. Die Intensität der Beteiligung kann unterschiedlich sein (Datensammeln und -auswerten, Mitbestimmung bei Forschungsfragen, Durchführen eines
Forschungsprozesses).

Es sollten mehr und innovative Begegnungsräume und Kommunikationswelten zwischen Wissenschaft und Gesamtgesellschaft geschaffen werden.

Wissenschaftssystem

In den einzelnen Disziplinen, aber auch disziplinübergreifend sollte ein kontinuierlicher Diskurs über die Verantwortung der Wissenschaft für ihre Ergebnisse etabliert werden.

Inter- und transdisziplinäre Ansätze, aber auch die Geistes- und Sozialwissenschaften mit ihrer traditionellen Reflexionsfunktion sollten in der Wissenschaft ein größeres Gewicht erhalten, sowohl in der Forschung wie auch in der Lehre.

Fragen der Ethik spielen eine wichtige Rolle, wenn Wissenschaft ihre gesellschaftliche Verantwortung wahrnehmen soll. Wissen muss mit moralischem Handeln in Einklang stehen. Deshalb sollte in der wissenschaftlichen Arbeit die ethische Dimension stärker reflektiert und auch kommuniziert werden.

Wissenschaft sollte ihren Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Herausforderungen leisten. Dafür müssen bei Forschungsfragen vielfältige Zieldimensionen einbezogen werden. Im gesamten Wissenschaftssystem bedarf es einer institutionellen Stärkung der Vielfalt von Zieldimensionen, z.B. bei der Forschungsförderung, in der disziplinären Kultur, bei den Berufungspolitiken und in Akkreditierungsverfahren, aber auch in den öffentlichen Diskursen. Sinnvoll wären auch neue Foren von Akteuren aus Wissenschaft, Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft, um adäquate Zieldimensionen in einzelnen Wissenschaftsbereichen zu diskutieren und festzulegen.

Wissenschaftskommunikation ist als integrativer Bestandteil von wissenschaftlicher Arbeit zu verstehen und sollte deshalb aufgewertet und ausgebaut werden. Zur Verantwortung der Wissenschaft gehören auch der Transfer in die Gesellschaft und die direkte Kommunikation mit den Bürgerinnen und Bürger.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssen für Kommunikationsaufgaben die erforderlichen Ressourcen erhalten, vor allem Zeit bzw. eine Entlastung von anderen Aufgaben.

Es sollten öffentlich finanzierte Plattformen geschaffen werden, auf denen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit kontroversen Auffassungen über ein Thema austauschen und verständigen können.

Die Bewertung von Forschungsleistungen sollte stärker qualitative Kriterien einbeziehen und nicht vorrangig auf quantitativen Kriterien wie Publikationszahlen, Zitierhäufigkeit etc. beruhen. Es sollten verschiedene Parameter berücksichtigt werden, z.B. auch Kommunikationsleistungen und die gesellschaftliche Relevanz der Forschung. Das Indikatorensystem zur Bewertung der Qualität von Forschung und Forschenden muss weiterentwickelt werden.

Englisch als Wissenschaftssprache ist unerlässlich, um den internationalen Austausch und grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu ermöglichen. Darüber hinaus sollte die Vielfalt der Landessprachen in der Wissenschaft erhalten bleiben, insbesondere in der Lehre und bei der Wissenschaftskommunikation (Vermittlung von Wissenschaft, Citizen Science).

Hochschulen sollten ein emanzipatives Bildungsideal verfolgen. Neben der Vermittlung von Fachwissen und wissenschaftlichen Methoden sollte auch die Entwicklung der Persönlichkeit und die gesellschaftliche Verantwortung der Studierenden eine wichtige Rolle spielen. Ziel sollten reflektierte, mündige und verantwortungsvolle Bürgerinnen und Bürger sein.

Bei der Besetzung von Stellen bzw. bei Berufungen an Hochschulen sollte Vielfalt stärker berücksichtigt werden. Auch Quoten könnten hier eine Lösung sein (z.B. im Hinblick auf Frauen und Arbeiterkinder). Das Wissenschaftssystem muss inklusiver werden.

Um ihre Verantwortung für den wissenschaftlichen Nachwuchs wahrzunehmen, sollten Hochschulen die Beschäftigungsbedingungen und Karriereperspektiven für Doktorandinnen und Doktoranden sowie Postdocs verbessern. Dazu gehört, mehr unbefristete Stellen zu schaffen und eine größere Planbarkeit von Karrierewegen zu ermöglichen, etwa durch die Ausweitung von Tenure-Track-Modellen und eine kontinuierliche Personalentwicklung an Hochschulen.

Das Wissenschaftssystem sollte mehr Mitgestaltungsmöglichkeiten für Studierende und junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bieten, z.B. durch die Einrichtung von Promovierendenräten.

Finanzierung von Wissenschaft

Wissenschaft muss ihre Verantwortung unabhängig wahrnehmen können. Dafür braucht es eine ausreichende und verlässliche Grundfinanzierung sowie eine Pluralität von Mittelgebenden. Die Abhängigkeit von Drittmitteln sollte reduziert werden bzw. nach Möglichkeit erst gar nicht entstehen.

Projektmittel sollten dazu dienen, zusätzliche Impulse in das Wissenschaftssystem zu geben. Dauerhafte Zusatzaufgaben an Hochschulen erfordern langfristige Finanzierungsmodelle, die eine Kontinuität der Problembearbeitung und nachhaltige Strukturen ermöglichen.

Über eine entsprechende Förderpolitik sollte für ein stärkeres und langfristiges Einbeziehen der Bürgerinnen und Bürger in wissenschaftliche Prozesse gesorgt werden.

Es braucht mehr Raum für themenoffene und innovative Forschung – was in den Förderprogrammen entsprechend berücksichtigt werden sollte.

Grundlagenforschung und anwendungsorientierte Forschung sollten gleichermaßen gefördert werden, da beide gebraucht werden, um gesellschaftliche Weiterentwicklung zu befördern.

Wissenschaft und Politik

Wissenschaft und Politik folgen unterschiedlichen Logiken und Zielen. Für die Weiterentwicklung und den Fortbestand einer demokratischen Gesellschaft ist der Dialog von Politik und Wissenschaft von großer Bedeutung. Es sollten mehr Reflexionsinstanzen in der Sphäre zwischen Wissenschaft und Politik geschaffen werden, um eine gemeinsame Problembearbeitung voranzutreiben.

Bei komplexen politischen Entscheidungen sollten interdisziplinäre Teams aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschafter durch Beratung und Vermittlung dafür sorgen, dass die politisch Verantwortlichen ihre Entscheidungen fundiert und reflektiert auf wissenschaftlicher Basis treffen können.

Auch wenn wissenschaftliche Erkenntnisse bekannt sind und von der Politik einbezogen werden, müssen in politischen Entscheidungsprozessen immer verschiedene Aspekte gegeneinander abgewogen werden, z.B. mögliche soziale, ökonomische und politische Folgen.

Politikerinnen und Politiker sind demokratisch gewählt und legitimiert, politische Entscheidungen zu treffen. In der Verantwortung der Wissenschaft liegt auch die Beratung von politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern. Dadurch verfügen Politikerinnen und Politiker über Bausteine, um im politischen Abwägungsprozess auf fundierter Basis zu Entscheidungen zu gelangen und einzuschätzen, welche Risiken damit verbunden sind.

Viele Fragen, die Wertentscheidungen beinhalten und an die Wissenschaft als „Sachfragen“ delegiert wurden, sollten wieder zu politischen Fragen werden, die auf der Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen bearbeitet werden.

Damit sich die Kompetenzen von Wissenschaft in politischen Entscheidungen stärker wiederfinden, sollten mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu politischen Akteuren werden – sei es als qualifizierte Beraterinnen und Berater von Politik oder als verantwortliche Politikerinnen und Politiker.

Zur gesellschaftlichen Verantwortung der Wissenschaft gehört auch, neue Fragen zu stellen und Diskussionen anzustoßen, Lösungen vorzuschlagen und zu diskutieren.

An Hochschulen sollten kontroverse Perspektiven und Debatten über gesellschaftspolitische Fragen gestärkt werden. Politik sollte auf Hochschulcampi ihren Platz haben, reine Parteiveranstaltungen sind anders zu bewerten. Die politische Debatte gehört mit zur Ausbildung der Studierenden.

An Hochschulen gelten Wissenschaftsfreiheit und Redefreiheit. Bei politischen Veranstaltungen müssen die Teilnehmenden die freiheitlich-demokratische Grundordnung respektieren. Schranken sollten auch dann gesetzt werden, wenn Verfassungsfeindlichkeit festgestellt wurde und rassistische, sexistische, antisemitische oder menschenfeindliche Inhalte vertreten werden.

Die Entscheidung, welche politischen Kräfte an Hochschulen ein Forum erhalten und welche Formate möglich sind, sollte in der Autonomie der jeweiligen Hochschule liegen – in einer gemeinsamen Entscheidung von Hochschulleitung und Akademischem Senat bzw. der breiteren Hochschulöffentlichkeit. Entsprechende Leitlinien und Werte könnten in der Hochschulordnung festgehalten werden.

Teil des Ausbildungsauftrags der Hochschulen sollte es sein, politische Debatten mit Andersdenkenden zu befördern und demokratisches Bewusstsein zu stärken. Politische Diskurse sollten deshalb nicht nur im Rahmen von Lehrveranstaltungen oder Forschungscolloquien stattfinden, sondern auch Formate wie z.B. Podiumsdiskussionen oder Streitgespräche einschließen. Die politische Streitkultur auf den Campi sollte weiterentwickelt werden.

Im Wissenschaftssystem muss ein Anreizsystem geschaffen werden, damit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zur Kommunikation mit der Gesellschaft motiviert werden. Auch Kommunikationsaufgaben sollten im Wissenschaftssystem Reputation bringen.

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