Digitalisierung in der Wissenschaft

Cover Angela Borgwardt Digitalisierung in der Wissenschaft

Angela Borgwardt: Digitalisierung in der Wissenschaft (Schriftenreihe des Netzwerk Exzellenz an deutschen Hochschulen Bd. 13). Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, Abt. Studienförderung 2018.

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Inhalt

In der Publikation steht die Frage im Mittelpunkt, welche Chancen und Risiken die Digitalisierung in der Wissenschaft mit sich bringt. Angesprochen werden die Herausforderungen, die sich durch den digitalen Wandel in einer Wissensgesellschaft ergeben, etwa bei der Wahrheits- und Wissenschaftskommunikation, aber auch Entwicklungen wie die „Plattformisierung“ von Bildung, die Open-Every-Strategie des Wissens, Gefahren einer digitalen Spaltung der Gesellschaft sowie das Leitbild einer inklusiven Wissensgesellschaft mit digital souveränen Bürgerinnen und Bürgern.

Weitere wichtige Punkte sind die Veränderungen der Publikationswege in der Wissenschaft (Open Access in der Forschung), die Potenziale der Digitalisierung im Datenmanagement und die neuen Erfordernisse und Möglichkeiten im Umgang mit Forschungsdaten.

Wichtige Ergebnisse

Veränderungen in der Wissenschaft durch Digitalisierung

Die Digitalisierung ist für die Wissenschaft mit vielfältigen Chancen verbunden, bringt aber auch große Herausforderungen mit sich. Die neuen Wege der Generierung, Übertragung und Vernetzung von Informationen prägen die Gesellschaft in allen Bereichen und verändern das Wissenschaftssystem grundlegend. Wissenschaft öffnet sich durch die Digitalisierung stärker: Open Access, Open Data, Open Source, Open Science und Citizen Science bergen Potenziale von mehr Transparenz, höherer Forschungsqualität und breiterer gesellschaftlicher Teilhabe. Doch bedarf es dafür auch neuer Formen der Wissenschaftskommunikation und der Qualitätssicherung sowie neuer Reputationsmechanismen in der Forschung.

Der digitale Wandel im Bereich Wissenschaft zeigt sich im gesamten Forschungs- und Publikationsprozess. Dazu gehören Veränderungen in den Publikationswegen wissenschaftlicher Erkenntnisse, neue Möglichkeiten der Speicherung, Nutzbarmachung und Vernetzung von wachsenden Mengen an Forschungsdaten, die Entwicklung einer Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) und einer europäischen Wissenschaftscloud (EOSC). Kennzeichnend sind aber auch neue Formen der Zusammenarbeit und Kollaboration zwischen zahlreichen Akteuren und die Nutzung von wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Grenzen von Disziplinen, Organisationen und Länder hinweg.

Auch die „Wahrheit“ und ihre Kommunikation verändert sich in der digitalen Welt – wer definiert sie und welche Rolle spielt die Wissenschaft dabei? Informationen sind immer und überall verfügbar, die grenzüberschreitende Kommunikation wird zunehmend komplexer und schneller. Zu all diesen Entwicklungen – mit ihren Potenzialen und Gefahren – muss sich die Wissenschaft verhalten. Sie steht vor der Aufgabe, die Chancen der Digitalisierung in den Bereichen Bildung, Forschung und Innovation besser als bisher zu nutzen, um Wissenschaft zukunftsfähig weiterzuentwickeln.

Handlungsempfehlungen

Digitale Souveränität aller Bürgerinnen und Bürger unterstützen:

In digital geprägten Wissensgesellschaften wie der Bundesrepublik Deutschland muss die Vermittlung und Förderung von digitalen Kenntnissen und Fähigkeiten (Digital Literacy) im Rahmen des Lebenslangen Lernens in allen Bildungseinrichtungen und Lernsettings eine wichtige Rolle spielen. Als Leitvorstellung kann das Konzept der digitalen Souveränität dienen. Dieses zielt darauf ab, alle Bürgerinnen und Bürgern zur aktiven und selbstbestimmten Teilhabe an einer digitalen Gesellschaft zu befähigen. Um digitalen Spaltungstendenzen entgegenzuwirken und eine inklusive Wissensgesellschaft zu erreichen, müssen auch die geeigneten Rahmenbedingungen etabliert werden. Dazu gehören die notwendigen technologischen Voraussetzungen (z.B. zur Vernetzung von Daten) und politische Regulierungen (z.B. in Bezug auf Datenschutz).

An Hochschulen sollten die Möglichkeiten des digitalen Lehrens und Lernens stärker genutzt werden und das Präsenzangebot ergänzen. Auch sind Anreizstrukturen zur Förderung der digitalen Kompetenzen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu etablieren, damit diese mit Entwicklungen wie Open Access, Open Data, Open Source, Open und Citizen Science adäquat umgehen können.

Umfassende Hochschulbildung mit digitalen Möglichkeiten verknüpfen:

Im Zuge der digitalen Transformation zeigen sich Tendenzen der Internationalisierung und Ökonomisierung von Bildung. Es entsteht ein neuer Bildungsmarkt mit vielfältigen, oftmals privaten Bildungsanbietern, bei denen kommerzielle Interessen im Vordergrund stehen. Daraus ergeben sich grundlegende Fragen nach einer wirksamen Qualitätssicherung und den Standards von Bildung.

Damit verbunden ist aber auch die wichtige Frage, wie sich ein öffentlich finanziertes Bildungsmodell mit einem umfassenden Bildungsbegriff weiterhin auf dem Bildungsmarkt behaupten kann. Hierauf müssen Antworten gefunden werden, da es für die Zukunftsfähigkeit einer demokratischen, sozial gerechten und nachhaltigen Gesellschaft unverzichtbar ist, dass die Bildungsangebote an Hochschulen nicht nur am Ziel der Beschäftigungsfähigkeit ausgerichtet sind. Vielmehr sollten sie auch soziale und kommunikative Kompetenzen, Persönlichkeitsentwicklung und gesellschaftliche Verantwortung der Studierenden mit einbeziehen. Vor diesem Hintergrund müssen die Hochschulen ihre Rolle reflektieren und Hochschulbildung im digitalen Zeitalter definieren, neue Bildungsangebote entwickeln und sich verstärkt im Bereich digitaler Bildungsplattformen engagieren.

Open Access im wissenschaftlichen Publikationswesen umsetzen:

Open Access eröffnet neue Zugänge zu Wissen und ermöglicht eine breitere gesellschaftliche Teilhabe an wissenschaftlichen Erkenntnissen. Um diese Potenziale nutzen zu können, muss im wissenschaftlichen Publikationswesen ein gelingender Übergang von den bisherigen Businessmodellen der großen Wissenschaftsverlage zu Open Access erreicht werden. Ziel sollte es sein, dass wissenschaftliche Ergebnisse, deren Erarbeitung mit öffentlichen Mitteln finanziert wurde, auch allen Interessierten aus Wissenschaft und Gesellschaft als öffentliches Gut frei zur Lektüre zur Verfügung stehen. Wissenschaftliche Fachverlage sollten künftig in angemessener Höhe für konkrete Dienstleistungen vergütet werden, die sie im Rahmen ihrer Publikations- oder Verlegertätigkeit erbringen.

Notwendig sind übergreifende Grundsätze für Open Access, die von der gesamten Wissenschaftscommunity akzeptiert werden. Darüber hinaus werden fachspezifische Lösungen gebraucht, die den verschiedenen Wissenschaftskulturen gerecht werden.

Forschungsdatenmanagement im digitalen Wandel aktiv gestalten:

Die Daten in der Forschung sind in den letzten Jahrzehnten immer mehr angewachsen und zunehmend komplexer geworden. Daraus ergeben sich für Forschungsdateninfrastrukturen drei zentrale Fragen: Wie können die Daten langfristig aufbewahrt bzw. sicher gespeichert werden? Wie sollten die Daten strukturiert und geordnet werden, damit sie auch in Zukunft wiedergefunden werden können? Wie können die Daten sinnvoll ausgewertet bzw. die meisten Erkenntnisse daraus gezogen werden?

Die Informationsversorgung im digitalen Wandel muss aktiv gestaltet werden, etwa durch eine stärkere Vernetzung analoger und digitaler Dienste. Auch Synergien zwischen verschiedenen Diensten müssen systematischer realisiert werden. Angesichts der steigenden Datenflut sind vor allem die Kuratierung und langfristige Nutzbarkeit von Daten mit großen Herausforderungen verbunden, die fachspezifische Lösungen erfordern.

Im Informationsaustausch in der Forschung sollten die bisherigen dokumentenbasierten Informationsflüsse (Lizensierung, Verlage) durch wissensbasierte Informationsflüsse (Wissensgraphen) abgelöst werden. Wissensgraphen erlauben durch die digitalen Möglichkeiten eine automatisierte Form der strukturierten Wissenserschließung in einer neuen Qualität. Es bedarf jedoch ausreichend finanzieller Mittel und einer intensiven Kooperation verschiedener Partner, um die dafür notwendigen digitalen Dienste zu entwickeln und umzusetzen.

Sehr wichtig wäre auch die Umstellung der Papierlaborbücher auf elektronische Laborbücher, da diese mehr Transparenz und Forschungsqualität ermöglichen, zu mehr Vertrauen und Verlässlichkeit in der Forschung beitragen und das wissenschaftliche Arbeiten effizienter und fälschungssicher machen. Die Einführung elektronischer Laborbücher muss in eine umfassende Strategie des Datenmanagements integriert werden. Für einen gelingenden Umstellungsprozess ist es unverzichtbar, die Unterstützung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler für das neue Dokumentationssystem zu gewinnen. Eine dauerhafte Verfügbarkeit der Daten bedarf zudem einer langfristigen und verlässlichen Finanzierung. Das bedeutet, dass in Universitäten  eine auskömmliche und nachhaltige Finanzierung aus Grundmitteln erreicht werden muss.

Vielfalt der Forschungsdatenaktivitäten aufeinander abstimmen:

Gegenwärtig ist auf nationaler und europäischer Ebene eine große Heterogenität bei Aktivitäten zu Forschungsdateninfrastrukturen festzustellen. Die unterschiedlichen Ansätze und Methoden sollten künftig besser aufeinander abgestimmt werden. Sinnvoll erscheint eine Kombination aus übergreifenden Forschungsinfrastrukturen mit Diensten, die von allen bzw. vielen Forschungscommunities verwendet werden können, und einzelnen Forschungsdateninfrastrukturen, die sich auf fachspezifische Bereiche konzentrieren.

Für eine vernünftige Nachnutzung der Daten ist zudem eine nachhaltige Finanzierung der Forschungsinfrastrukturen und die Bildung von Standards unverzichtbar. Darauf zielt auch die geplante Nationale Forschungsdateninfrastruktur (NFDI), die dringend gebraucht wird und deshalb möglichst schnell etabliert werden sollte.

Auch muss klar definiert werden, was unter Open Data bzw. der „Offenheit“ von Daten verstanden wird, unter welchen Bedingungen und zu welchem Zeitpunkt Forschungsdaten offengelegt werden sollten und in welchen Bereichen Einschränkungen oder Schutzfristen sinnvoll sind. Eine wichtige Rolle spielen dabei Verfahren der Qualitätssicherung und der Einhaltung der Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis. Über diese Fragen muss in der Wissenschaft noch intensiv diskutiert werden, um ein gemeinsames Verständnis zu entwickeln. Eine gute Basis könnten dafür die FAIR Data-Prinzipien sein, da sich abzeichnet, dass die hier formulierten Anforderungen an Forschungsdaten über die Grenzen der einzelnen Wissenschaftscommunities hinweg akzeptiert werden. Da sich die Veröffentlichungspraktiken von Forschungsdaten in den Disziplinen stark unterscheiden, sollten Fachcommunities aber auch geeignete Kriterien für ihren jeweiligen Bereich entwickeln.

Darüber hinaus braucht es internationale Regeln und Absprachen zu diesem Thema. Die FAIR Data-Prinzipien könnten zunächst als europaweite Standards etabliert werden, um dann in einem nächsten Schritt weltweite Standards anzustreben.

Potenziale von Open Science und Citizen Science nutzen:

Aufgrund der vielfältigen Potenziale von Open Science und Citizen Science sollten diese Ansätze in der Wissenschaft ausgeweitet werden. Dazu gehört der Wissenstransfer in die Gesellschaft, aber auch das Einbeziehen von Bürgerinnen und Bürger in Forschungsprojekte, sei es bei der Entwicklung von Fragestellungen, bei der Auswertung von Daten oder bei der Lösung von Forschungsproblemen. Bei manchen Projekten sollte die Partizipation von Bürgerinnen und Bürgern an wissenschaftlichen Prozessen im Vordergrund stehen, um Bewusstseinsförderung voranzutreiben, das Vertrauen in die Wissenschaft zu stärken und eine verantwortungsvolle Nutzung aller verfügbaren Technologien zu unterstützen.

Die stärkere Öffnung der Wissenschaft in die Gesellschaft kann aber auch als Ausdruck einer neuen Arbeitsteilung in der Wissenschaft verstanden werden. Angesichts riesiger und ständig wachsender Datenmengen könnten die Bürgerinnen und Bürger künftig eine wichtige Rolle bei der Generierung von Wissen und bei der Bewertung von Daten übernehmen. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass das dieses bürgerschaftliche Engagement für wissenschaftliche Erkenntnisse eingesetzt wird, die der Gesamtgesellschaft zugutekommen, und nicht einseitig für kommerzielle Zwecke instrumentalisiert wird. Von der Zusammenarbeit und dem Austausch sollten sowohl die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler als auch die beteiligten Bürgerinnen und Bürger profitieren.

Reputationssystem in der Wissenschaft verändern:

Durch die Digitalisierung hat sich der Druck auf das Wissenschaftssystem verstärkt, neue Indikatoren für die Bewertung wissenschaftlicher Leistungen zu bilden. Die derzeitigen Indikatoren sind zu stark auf Forschungsleistungen und quantitative Messgrößen bzw. den zitationsbasierten Impact Factor fokussiert. Es gilt, das Reputationssystem in der Wissenschaft insgesamt zu verändern, um neuen Entwicklungen in der Wissenschaft wie Open Access und Open Science gerecht zu werden.

Notwendig ist ein wissenschaftskultureller Wandel, der vor allem von der Wissenschaft selbst zu leisten ist: Die wissenschaftlichen Gesellschaften und die Hochschulen müssen die Reputationsmechanismen breiter und differenzierter gestalten und an das digitale Zeitalter anpassen. Dazu gehört, dass auch über neue Publikationswege wissenschaftliche Reputation gewonnen werden kann, etwa durch Open Access-Publikationen, Open Peer-Reviews und das Nutzen alternativer Veröffentlichungsplattformen. Solche Indikatoren sollten künftig einen höheren Stellenwert in Berufungsverfahren und wissenschaftlichen Karriereverläufen erhalten. Praktisch müssen das dann die Hochschulen vor Ort umsetzen. Die Politik kann die Veränderungen der Wissenschaftskultur durch neue Anreizstrukturen unterstützen, etwa indem die neuen Indikatoren bei Förderentscheidungen maßgeblich einbezogen werden.

Bei der Entwicklung neuer Indikatoren zur Bewertung wissenschaftlicher Leistungen, etwa Citizen Science-Aktivitäten, muss jedoch geklärt werden, wie solche Indikatoren greifbar gemacht bzw. gemessen werden können und wie die Nachvollziehbarkeit und Transparenz bei der Anwendung sichergestellt werden kann. Dabei sind auch mögliche nicht intendierte Folgen genau zu bedenken.

Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis stärken:

Wissenschaftsakteure stehen vor der anspruchsvollen Aufgabe, wirksame Strategien gegen die wachsende Unpopularität von „Wahrheit“ und das steigende Misstrauen gegenüber der Wissenschaft zu entwickeln. Um zu verhindern, dass es im Zuge der digitalen Transformation zu einer Erosion der Wissensgesellschaft kommt, in der „Fake News“ und unwahre Behauptungen nicht mehr von Fakten und seriösen Quellen zu unterscheiden sind, müssen die wissenschaftlichen Prinzipien verteidigt und die „Wahrheitskommunikation“ gestärkt werden.

Open Science- und Citizen Science-Ansätze können hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Durch eine Öffnung in die Gesellschaft und mehr Transparenz in den Wissenschaften kann der Wissenstransfer verbessert werden. Indem in der Gesellschaft ein Verständnis über die gute wissenschaftliche Praxis verankert wird und Bürgerinnen und Bürger an die wissenschaftliche Arbeit herangeführt werden, besteht auch die Chance, eine größere Sensibilisierung für die Methoden der Wissenschaft und eine wissenschaftlich fundierte Argumentation und Bewertung von Sachverhalten zu erreichen. Die Prinzipien guter wissenschaftlicher Praxis müssen in die heutige Zeit einer digital geprägten Wissensgesellschaft übersetzt werden. Dafür ist es notwendig, in der Wissenschaft neue Formen der Veröffentlichung und Beteiligung in der breiteren Öffentlichkeit zu verankern. Denn die wissenschaftlichen Prinzipien sind nicht nur für den Bereich der Wissenschaft von zentraler Bedeutung, sondern generell für die Information und Kommunikation in digital geprägten Wissensgesellschaften.

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